Meine Nachlese greift nunmehr zurück sogar noch über das Jahr 2012 hinaus. Ich möchte hier noch auf den IMS 2011 eingehen und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dort drei überaus spannende und lehrreiche Diskussionen geführt wurden, die zudem thematisch auch anschließen an meine letzten Artikel. Die erste drehte sich um das Thema Berge und Medien, Titel: „Showbühne Berg“. Das Podium ist hauptsächlich mit Männern aus den Medien besetzt: Erwin Brunner (Chefredakteur National Geographic), Bene Benedict (Chefredakteur Alpin), Giorgio Vivalda (Verleger und Filmproduzent) und Christoph Engl (Jurist, Südtirol-Marketing).
Die Diskussion beginnt Moderator Florian Rudig mit der Frage, ob es eine Art von “Showalpinismus” gibt und wenn ja, wo dieser anfängt. Das Podium ist sich jedoch relativ einig, dass die Show zum Alpinismus, wie zu jeder anderen Sportart auch, einfach dazugehört – man rede ja auch nicht vom “Show-Radfahren”, meinte etwa Christoph Engl. Man ist sich auf dem Podium jedoch mit Reinhold Messner, der via Audio-Beitrag zu Wort kam, weitgehend einig in der Forderung, bei Filmen oder anderen Medien kenntlich zu machen, ob diese eine sportliche Leistung, eine Expedition, etc. dokumentieren oder ob sie teils oder vollständig gespielt sind und nur bzw. vornehmlich der Unterhaltung dienen.
Florian Rudig stellt fest, dass die Schlagzeilen der Alpin-Zeitschriften über die letzten Jahre hinweg eine einzige Ansammlung von Superlativen darstellt, dass es immer mehr des Extremen und des Besonderen bedürfe, dessen »was eigentlich Material von Spielfilmen ist«, worin sich zugleich ausdrücke, dass man sich als Alpinist auch dem Sponsor gegenüber immer etwas besonderes einfallen lassen müsse, um in den Medien vorzukommen. Ein super Beispiel: Mit Hilfe einer Drohne gedrehter Film einer Besteigung des Trango Tower in Pakistan.
Giorgio Vivalda merkte daraufhin an, dass nun einmal die Menschen das Dramatische mehr interessiert und lockt, und es daher auch in den Medien begehrter ist. Er bezieht sich auf Walter Bonatti, der meinte (sinngemäß), dass ein Berg ohne den Menschen, für den er eine Bedeutung besitzt, nichts ist, als Gestein, dass also der Berg seine Bedeutung nicht allein, nicht an sich und für sich besitze, sondern allein für den Menschen, dass er quasi nichts sei ohne den Menschen. Im Gegenzug sei nun ein Alpinist auch nichts ohne den Berg, an dem er eine Leistung vollbringen und sich unter Beweis stellen kann. Es sei also diese besondere Verbindung von Berg und Mensch, die erst eine Geschichte oder ein Abenteuer entstehen lasse – eine Verbindung, wie sie seiner Meinung nach in keiner anderen Sportart bestehe und Bedeutung besitze. Dieses Feld sei zudem durch eine große Variabilität und eine große Bandbreite an möglichen Betätigungen charakterisiert. Den Rest seines Beitrages habe ich leider nicht verstanden, aber Erwin Brunner sagt dann etwas sehr passendes, nämlich dass insofern natürlich »der Sport, auch der Alpinismus,ein perfekts Abbild der Gesellschaft« ist: »Alles, was hier jetzt gesagt wurde, sind Mechanismen der normalen, gesellschaftlichen Realität und der Entwicklung mit der Tendenz, immer sich noch stärker zu spezifizieren, sich stärker zu kommerzialisieren, sich nochmal zu steigern. Das sind lauter Elemente, die einfach im normalen Leben, in der Gesellschaft auch da sind – der Sport spiegelt sie.« Weiter erzählt er sehr treffend, dass früher, vor hundert Jahren eben das Dorfgasthaus die Bühne der Alpinisten gewesen sei und sich dort die ersten “showalpinistischen Darbietungen” abgespielt hätten und dass sich seitdem nur die Medien gewandelt hätten, die Menschen und ihre Geschichte und die Auslöser dafür aber weitgehend die selben geblieben seien. »Heute im globalen Dorf findet das auf youtube vielleicht statt, oder in der Lokalzeitung« oder eben per MMS schon direkt vom Gipfel oder gar per twitter.

Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Der, auch was Sponsoring angeht, sehr vorzeigbare “Skyrunner” Christian Stangl, durch seinen Irrtum/Betrug am K2 Thema beim IMS 2011.
Dann wird das Thema Wahrheit diskutiert. Wie oben schon angedeutet, wird von den Diskutanden eine Kennzeichnung bzw. genaue Auslegung dessen gefordert, was wahr ist und dokumentarischen Charakter hat, und dessen was eher den Charakter einer Reality-Show hat. Die Diskussion hangelt sich an der schwierigen Frage entlang, wie sich das bewerkstelligen lässt, aber auch, wo in der Geschichtenerzählung und der Darstellung in den Medien die Grenzen der Wahrheit verlaufen und wie diese sich subjektiv unterscheiden kann.
Das Thema twitter ist später noch einmal ein Aufhänger der Diskussion, da es einigen in der Alpinisten-Szene sauer aufstößt, wenn Leute wie Simone Moro bereits vom Basislager aus ihre Erfolge und Erlebnisse per twitter und Satellitentelefon in alle Welt verschicken. Christoph Engl bringt es auf den Punkt wenn er den Grund nennt, warum live-Berichte bei keiner anderen Sportart so problematisch sind, wie im Alpinismus:
»Der Berg ist nur mystifiziert.«
Hier sind wir nun beim Kern dessen angelangt, womit sich dieser blog beschäftigt: Mystifikationen und Mythen, ihre Entstehung und ihre Funktionsweise. Und das hängt untrennbar mit Bewusstseinsformen und ihrer Kritik zusammen, das bedeutet: Ideologiekritik.
In der Diskussion wird dann auch noch das Sponsoring (weiteres super Beispiel auf youtube) aufgegriffen, der Vergleich zum Radsport gezogen und Doping thematisiert, worin sich die Schwierigkeit verdeutlicht, herauszufinden wo im Sport – und d.h. in jeglichem Sport – die Wahrheit aufhört und die Lüge beginnt. Ich will nicht den ganzen Rest hier auch noch wiedergeben, und möchte stattdessen lieber allen, die sich für das Thema interessieren ans Herz legen, sich die Diskussion selbst hier anzuhören – hochspannend!
Die Marketing-Abteilung der Firma Mammut beweist jedenfalls Humor. Warum? Werbe-Video bis zum Ende schauen! ;-)!
Ich möchte außerdem noch zu einem anderen äußerst interessanten Kongress kommen, der auch auf dem IMS 2011 stattfand und an dem ich ebenfalls exemplarisch das Ziel dieses Blogs noch einmal mehr verdeutlichen will. Das Thema des Kongresses (eigentlich vielmehr eine Podiumsdiskussion) war „Berge und Spiritualität“. Ich will nur auf die ersten beiden Referenten eingehen. Zuerst stellte der Psychologe (eigtl. Neurologe) Arne Dietrich von der Amerikanischen Universität Beirut seinen neurophysiologischen Ansatz für die Erklärung des „Flow“-Gefühls beim Besteigen von Bergen dar, also das Gefühl, dass alles „im Fluss“ ist, eine Art tranceartiger Zustand ähnlich dem beim Dauerlauf. Seine Erklärung lässt sich im Grunde so auf den Punkt bringen, dass das Selbstbewusstsein bei lang anhaltender Körperbewegung durch notwendige Umverteilungen an Ressourcen im Gehirn eingeschränkt wird. Das Selbstbewusstsein (self-concept, sense of self) ist für das Gehirn ein enorm aufwendiger und komplexer, d.h. auch kostspieliger Funktionszusammenhang, was die Verwendung von Ressourcen betrifft. Dieses müsse bei längerer, ausgeprägter Körperbewegung, die ebenso für das Gehirn sehr energieaufwendig zu „berechnen“ ist, aufgrund von Umverteilungen im Energiehaushalt eingeschränkt werden, „ähnlich wie bei einem sinkenden Schiff: es wirft Ballast über Bord“. Die erste Funktion, die bei starker Bewegung also eingeschränkt wird, ist die Fähigkeit zur „mentalen Zeitreise“, es kommt zum Gefühl der Zeitlosigkeit. Das Selbstbewusstsein oder zumindest seine höheren Schichten desintegrieren, die Unterscheidungen und die Grenzen zwischen dem Selbst und den Dingen verschwimmen, womit das Gefühl der Einheit mit der Natur entsteht. Er spricht dabei auch vom Verlust der Ego-Grenzen.
Der nächste, hochinteressante Part wurde vom Tiroler Landesbischof Manfred Scheuer gesprochen. Zuvor gibt jedoch der Moderator eine kurze Einleitung, in der er die Diskussion auf ein erkenntnistheoretisches Niveau bringt: Er zieht aus dem ersten Vortrag das Fazit, Natur sei eine Projektionsfläche für den Menschen, sie sei das, was der Mensch daraus mache, sei unschuldig und der Mensch gebe all dem erst einen Sinn.
Scheuer nun versucht, verschiedenen Motivationen für das Aufsuchen der Berge und spirituellen Aspekten des Bergsteigens, nachzugehen. An die einleitenden Worte des Moderators anschließend, sagt er: »Zurück zur Natur, das ist nicht einfach der Weg in die Unschuld oder in das reine, unverbrauchte Dasein, sondern das steht auch in einem politischen, gesellschaftlichen Kontext.«
Mit Verweis auf die historische Rolle von Antisemitismus und die Verstrickung der Nazis im Bergsteigen und in den Alpenvereinen, und in diesem Kontext einem Hinweis auf die Ausstellung „Berg Heil!“, die 2011 im Alpinen Museum des DAV gezeigt wurde, zitiert er Bertold Brechts „Gedicht an die Nachgeborenen“, das dieser 1938 vor dem Hintergrund des Entsetzens über die Barbarei des Faschismus verfasst hat:
»Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Berge fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt?«
Und er bleibt weiter bei Brecht, der meinte »dass wir das Schauen und Staunen verlernt haben und nur noch Glotzen können«. Das auf die Berge gehen sei nun eine Unterbrechung dieses Glotzens, es lade ein zum Schauen und Staunen. Andererseits sei es eine »Unterbrechung einer rein naturwissenschaftlich-technischen Rationalität mit ihren vulgär-positivistischen Begleiterscheinungen; dass nur noch nackte Tatsachen, reale Fakten und feste Resultate, greifbare Erfolge zählen – Unterbrechung in Richtung Kontemplation«. Und außerdem sei Gehen ja gesund, bis hin zur therapeutischen Wirkung, also Gesundung durch Gehen: »Bleibt man am Gehen, so geht es schon« (Kierkegaard).
Es folgt ein Schwung hinüber zu Immanuel Kant, der ja bekanntermaßen jeden Tag einen ausgedehnten Spaziergang unternommen hat, und mit ihm zur Festellung, äußere und innere Beweglichkeit – Beweglichkeit des Denkens – gehörten zusammen. Und nun wird es spannend: Scheuer spricht von Orientierungslosigkeit, Ziellosigkeit, Desorientierung im Dasein. Berge verweisen ihn auf »die letzten Fragen nach einem Sinn und nach einem Ziel des Lebens, das nicht ins Leere geht und auch nicht in der Absurdität des Alltags endet.« Die Flucht in die Berge sei dann oftmals auch eine Flucht vor den inneren Höhen und Bergen, aber auch Abgründen. Die äußeren Berge können dabei eine große Hilfe sein, die »inneren Berge der eigenen Identität« zu verstehen und dann emporzusteigen. Und zum Schluss gibt er das Statement aus, jede »Verzweckung« des Alpinismus sei auch eine Verfremdung:
»Da gibt es auch so etwas wie eine heilige Warum-Losigkeit«,
womit er sich auf einen Begriff des mittelalterlichen Theologen Meister Eckhardt beruft. Und hier sind wir nun beim Kern dessen angelangt, worum sich dieser Blog dreht. Einerseits zählt Scheuer verschiedenste Gründe fürs Bergsteigen auf. Andererseits spricht er von Warum-Losigkeit. Was meint er damit? Wenn man nicht nach dem Warum fragen soll, darf oder gar nicht kann, dann heißt das, es soll, darf oder kann keine Beweggründe dafür geben. Aber vorher zählt er sie selbst auf und ist sich des Widerspruchs gar nicht bewusst, sieht darin möglicherweise gar keinen. Gehen wir also davon aus, es gibt gute Gründe dafür, in und auf Berge zu gehen, aber sie spielen keine
Rolle, weil sie meist ohnehin gar nicht bewusst werden – eine Überlegung, die auch der Alltagserfahrung entspricht. Wer macht sich schon Gedanken darüber, warum ausgerechnet die Alpen das nächste Urlaubsziel sein sollen, sie sind es einfach. Es handelt sich also um etwas, das im Alltagsbewusstsein keine Rolle spielt, um Unbewusstes. Meine Behauptung ist, dass Manfred Scheuer nur deshalb auf die Idee kommt, von Warum-Losigkeit zu sprechen. Wenn er Beweggründe aufzählt, dann deshalb, weil er sich damit befasst hat, in sich hineingehorcht, Unbewusstes zu ergründen versucht, Anhaltspunkte und Hinweise bei großen Denkern gefunden hat. Dass er nun aber genau auf diese Weise von Warum-Losigkeit spricht, es also den Charakter von etwas natürlichem annimmt, ist ein klarer, und oft anzutreffender Fall von Ideologie, das heißt von notwendig falschem Bewusstsein. Er ist nicht nur oft anzutreffen, er ist sogar die Regel. Fast jeder Mensch, der schon mal ein Buch über Alpinismus gelesen oder den Namen Sir Edmund Hillary gehört hat, kennt auch dessen zum berühmten Diktum gewordene Antwort auf die Frage nach dem Warum der Besteigung des Mount Everest: „Weil er da ist“.
Später sagt Scheuer auch noch:
»In gewisser Hinsicht bewegt sich das Bergsteigen außerhalb der Zweckrationalität und außerhalb der Beherrschbarkeit.«
Aber es gibt unzählige Gründe, auf Berge zu steigen und sie sind stark miteinander verknüpft, sie lassen sich nur schwer trennen und bleiben den meisten Menschen unbewusst oder erscheinen ihnen als naturgegebene Tatsachen. Und da es Gründe gibt, erfüllt das Bergsteigen einen Zweck. Nicht nur einen, sondern ebenso unzählige. Man denke nur an das ganz banale Bedürfnis nach Ausgleich und Erholung. Diesem kann man sogar Geldwerte zumessen, oder anders herum, den wirtschaftlichen Schaden berechnen, der durch zu viel oder zu wenig Freizeit/Urlaub entsteht. Dafür, d.h. für die Messung/Berechnung immaterieller …ähm… Gegebenheiten gibt es einen eigenen Zweig der Wirtschaftswissenschaften, die Wohlfahrtsökonomik oder noch abgefahrener: das Wissensmanagement.
Aber, und damit komme ich zu einem Moment, das tatsächlich nicht in den ökonomischen Kalkulationen und analytischen Betrachtungen aufgeht und sich wohl auch nur schwerlich physiologisch herleiten lässt. Es gibt doch tatsächlich und unhinterfragbar ein erfüllendes, beglückendes, ästhetisches Moment im Bergsteigen, sei es nun der Ausblick in die Ferne, der Anblick einer schönen Gebirgskulisse oder einfach der Moment der, ich nenne es mal: Erhabenheit beim Erreichen eines Gipfels. Liegt darin nicht auch etwas zweckfreies, etwas transzendierendes, ähnlich wie in der Kunst? Und damit gibt es, so glaube ich, ein Moment, das sich nicht von der Logik der Verwertung erfassen lässt und das weder in triebökonomischen noch soziologischen oder polit-ökonomischen Betrachtungen aufgeht. Das Reich der Freiheit fängt in der Freizeit an. Aber diese dient zugleich der Reproduktion. Es besteht also der Zwang zur Reproduktion und zugleich ist das Bergsteigen eine Form der Freiheit.
Handelt es sich also um einen Doppelcharakter, ein dialektisches Verhältnis? Denn es liegt im Bergsteigen/Abenteuersport zugleich etwas zweckfreies, aber mehr noch etwas zutiefst den gesellschaftlichen Zwängen verhaftetes? Dies sind nur einige der Fragen, deren Beantwortung hier nachgegangen werden soll…
Die Podiumsdiskussion “Berge und Spiritualität” kann man sich auch anhören…