Gestern habe ich durch Zufall einen großartigen Radio-Beitrag des SWR2 zum Thema “Fluchtpunkt Wildnis” gehört. Auf diesen möchte ich hier kurz hinweisen und einige Ausschnitte wiedergeben, da in dem Feature sehr anschaulich und reflektiert auf den Punkt gebracht wird, was es mit der Wildnis und dem “Wille zum Naturerlebnis zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit” auf sich hat.
Zu Beginn stellt der Autor Gerhard Fitzthum fest, dass es sich beim Naturverhältnis um ein dialektisches Verhältnis handeln muss und die Frage wird gestellt, ob der Begriff der Wildnis überhaupt noch einen realen Gegenstand hat.
»Wo sollte man heute noch gänzlich unbeeinflusste oder gar unberührte Natur finden, in einer Zeit, in der selbst der Erdorbit voll ist mit Satelliten und Weltraumschrott, in einer Zeit, in der es keinen noch so abgelegenen Teil des Ozeans gibt, der nicht mit Schwermetallen belastet und halbwegs leergefischt ist, in einer Zeit, in der auch die höchsten Alpen gipfel mit Lawinenverbauungen, Stromleitungen und Liftkabeln überzogen sind? Ist Wildnis nicht längst zu einem Phantasma geworden? Bringen wir sie nicht gleichsam in unserem Reisegepäck mit – als Sehnsucht und Vorstellung?«
Erläutert werden daher die historischen Konstitutionsbedingungen der Wildnis seit dem Mittelalter und dabei v.a. der Wandel, den die Alpen vom Natur- zum Kulturraum erfuhren und der Tourismus, der diesen Wandel begleitete. Dabei wird auch die Bedeutung der Alpenvereine nicht außer Acht gelassen und der sich entwickelnde Widerspruch thematisiert, der zwischen ihren Bestrebungen der Erschließung einerseits und ihrem Anspruch auf Ermöglichung eindrücklicher Naturerfahrung andererseits besteht. Sehr hellsichtig wird etwa angemerkt:
Die uns bekannten Teile des europäischen Hochgebirges haben sich in rundum abgesicherte Abenteuerspielplätze verwandelt, in denen nur noch kleine undkleinste Wildnisinseln übrig geblieben sind. Und auf diesen lastet ein immer größerer Freizeitdruck – nicht zuletzt durch diejenigen, die sich auf umweltverträgliche Weisedurch die Landschaft bewegen wollen. Auch und gerade die Freunde authentischer Naturerlebnisse zerstören, was sie suchen, indem sie es suchen.
Aus diesem Widerspruch resultierte etwa auch die Gründung der Organisation “Mountain Wilderness” durch einige Alpinisten, etwa Reinhold Messner.
Weiter wird verschiedenen Ausprägungen der Sehnsucht nach Wildnis nachgespürt und auf die Schwierigkeiten, diese zu finden, hingewiesen. Bei der verbreiteten Konstatierung, dass die Wildnis am Ende sei, werde die immer weiter zunehmende Verwilderung urbaner Räume vergessen, also die Entstehung einer “Wildnis zweiter Ordnung”. Es komme eben darauf an, was man unter Wildnis verstehe – und da gebe es unterschiedliche Möglichkeiten. Doch der gegenwärtige Wildnis-Diskurs sei »fast immer von aufgeladenen Deutungsmustern bestimmt, besonders von dem der vollständigen Unberührtheit. Mit diesem Ausschlusskriterium ist die Wildnis zwar ex definitione erledigt, es sind aber
einige unangenehme Fragen übrig geblieben:
Ist eine Gegend plötzlich keine Wildnis mehr, wenn man einer Spur folgt, die vor uns jemand in sie hineingetreten hat? Wenn in ihrer Nähe ein Sendeturm für den Handyempfang installiert wird? Oder wenn saurer Regen auf sie herabregnet?«
Dieses Verständnis von Wildnis sei widersinnig, »weil es schon seit Jahrzehntausenden keine Wildnis ohne Anwesen-
heit des Menschen mehr gibt. … Absolute Unberührtheit ist ein Mythos der Neuzeit, Wildnis ein relationaler Begriff. Sinn macht er nur, wenn er die Vorherrschaft natürlicher Prozesse artikuliert, und nicht die grundsätzliche Abwesenheit des Menschen.«
Interessant ist auch die Verknüpfung von Aspekten der Wildnis-Bilder mit der darwinschen Evolutionstheorie und ihrem historischen Kontext.
Darwins Idee des „survival of the fittest“ ist in hohem Maße zeitspezifisch, insofern
sie vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umwälzungen im Frühviktorianismus
entwickelt wurde und auf diese bezogen bleibt: Die den Einzelnen schützenden
Zunftordungen und andere über Jahrhunderte gewachsene sozialen Bindungen
waren im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgelöst worden, ein freies Unternehmertum
im Sinne der Theorien von Adam Smith war entstanden. Das Individuum besaß nun
nur noch Wert gemäß der Leistung, die es erbrachte und die es auf dem freien Markt
zu verkaufen imstande war. Statt im Schutzraum einer festgefügten gesellschaft-
lichen Ordnung fand es sich in einer Art Wildnis wieder – was sich auch in der
modernen Rede vom ‚Raubtierkapitalismus’ spiegelt. Hat man die Grundprinzipien
einer solchen Gesellschaft einmal verinnerlicht, so liegt nichts näher als zu glauben,
dass es schon in der Natur nur um den Kampf aller gegen alle geht. Dass diese
Vorstellung nicht zwingend ist, zeigt sich auch an der nicht weniger plausiblen, aber
diametral entgegen gesetzten Betrachtungsweise der Wildnis als sich selbst
regulierendes Ökosystem.
Um zu klären, warum sich die beiden wesentlichen Bilder von Wildnis so vehement halten, versucht Fitzthum die Geschichte der “Naturaustreibung” nachzuzeichnen, die sich seiner Meinung nach in 4 Phasen aufteilen ließe. Nach Phasen der theologischen und ökonomischen Naturbeherrschung, sei Wildnis in der letzten Phase nur noch reine menschliche Projektion, in der etwas unabgegoltenes oder abgespaltenes den Menschen als Fluchtpunkt gegenübertrete. Leider wird Fitzthum dann etwas ungenau, spricht sich zwar dafür aus, den Begriff der Wildnis nicht “zu den Akten” zu legen, verwundert aber einerseits mit der Vorstellung der Erde als eines Organismus, gefolgt von der Feststellung, dass es der Natur “egal” sei, ob sie jemand beherrsche oder nicht, da sie indifferent sei.
Dennoch empfehle ich, sich den Beitrag am besten selbst anzuhören oder anzuschauen, denn einige Denkanstöße sind allemal zu gewinnen.
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Das Manuskript zur Sendung.