Der Deutsche Alpenverein ist vergangenes Jahr 150 Jahre alt geworden. Das hat er gebührend gefeiert. Dass er so lange besteht, ist durchaus nicht selbstverständlich. Denn er ist eine widersprüchliche Organisation, in seinen Zielen wie auch in seiner Mitgliederschaft.
[Besser spät als nie: Der Artikel ist genau genommen schon letztes Jahr entstanden. Er wurde mit leichten Änderungen in der jungle world #2/2020 abgedruckt.]
War es das ursprüngliche Hauptziel des Alpenvereins noch, die Bergwelt für die Bevölkerung zu erschließen, das heißt, durch Wege- und Hüttenbau sowie Kartografierung erreichbar zu machen, so dürfte heute das Gegenteil der Fall sein. Ab den 1920er Jahren galt diese Erschließung ohnehin immer weniger für Juden. Die wurden nämlich zu der Zeit, spätestens ab 1933 ausgeschlossen. Dafür kam als weiteres Ziel jener Epoche die Bewahrung der Bergwelt hinzu, denn durch die Industrialisierung und die rapide Entwicklung von Verkehrsmitteln wuchs bereits die Sorge einer Beeinträchtigung der Bergwelt. 1977 wurde dann der Stopp des Hüttenbaus beschlossen, die Erschließung der Alpen für beendet erklärt. Und hier zeigt sich ein Problem, das geradezu exemplarisch die Widersprüchlichkeit des Alpenvereins verdeutlicht.
Denn eben jene Erschließung wird, genau genommen, heute weiter betrieben, indem der Komfort der Alpenvereins-Unterkünfte stetig erhöht wird. So rüsten die Wirtinnen und Wirte ihre Hütten immer öfter mit den gewissen Annehmlichkeiten des Alltags auf, wie Duschen mit warmem Wasser, Saunas, WLAN, Handyladestationen, einem ausgefeilten Speiseangebot sowie diversen Freizeitmöglichkeiten. Damit werden die Hütten ganz offensichtlich einem breiteren Publikum attraktiv gemacht, die Erschließung also indirekt weiter geführt.
Das liegt nicht primär am Alpenverein, sondern vor allem am starken Konkurrenzdruck, dem auch die Betreiberinnen der Alpenhütten erliegen. Denn auch sie operieren auf einem Markt, in dem um Gäste gebuhlt werden muss. Deshalb lassen die Wirte sich immer etwas Neues einfallen, um die Attraktivität der eigenen Hütten zu erhöhen. Seien es fragwürdige „Klettergärten“, Klettersteige, Flying Fox-Bahnen oder andere Möglichkeiten für die modernen Abenteurer, jung und alt, die sich im „Playground of Europe“ austoben möchten, wie der britische Alpinist Leslie Stephen die Alpen bereits vor 150 Jahren in vollem Ernst nannte.
Die Hütten sind in der Regel wiederum schon längst in das Tourismus-Marketing ihrer Regionen eingebunden und fungieren dort neben Seilbahnen, Spaßbädern, Luxushotels, Naturattraktionen und Erlebniswegen als „Assets“ im Kampf um die Gäste. Zwar könnte der Alpenverein als Besitzer der Unterkünfte dieser Aufrüstung einen Riegel vorschieben – das Thema wird seit jeher auch heiß diskutiert. Doch zugleich muss er natürlich die harten ökonomischen Fakten berücksichtigen.
Sicher hat der Alpenverein in seiner Geschichte einen starken Wandel durchlaufen, denn auch die Bedürfnisse der Menschen ändern sich, oder besser gesagt: vermehren sich. Ob das aber auch heißt, dass ihre Ansprüche steigen, zumal beim Besuch der hochalpinen Gebirgswelt, bleibt fraglich. Deshalb hat sich 2016 in der Sektion München die Arbeitsgruppe „Quo Vadis DAV?“ gegründet und gefragt, „ist der Sonnenuntergang geduscht wirklich schöner?“. Viele Sektionen, allen voran jene aus München und dem Oberland, ähneln heute eher modernen Freizeit-Dienstleistern, wie auch in der Süddeutschen Zeitung im August 2018 angemerkt wurde. Mit ihren jeweils rund 178.000 Mitgliedern und Tausend Mitarbeitern sowie einem Freizeitangebot, das weit über Bergsport hinausgeht, wird in diesen Sektionen besonders deutlich, welchen Spagat der Alpenverein bewerkstelligen muss zwischen seiner Rolle als Sportverein und Naturschutzorganisation. Deutlich wird zudem auch, welche Ausmaße der spätkapitalistische Freizeitbetrieb annimmt. Auch die Reproduktion der Ware Arbeitskraft durch Erholung in der Freizeit muss organisiert werden, am besten – so wie beim DAV – durch gutes Management und eine große Menge ehrenamtliche Arbeit. Ohne sie gäbe es den Verein schlicht nicht und auch dieses Thema ist ein Dauerbrenner in vereinsinternen Diskussionen. Reproduktionsarbeit bleibt unbezahlt, in vielerlei Hinsicht.
Auch in seiner Rolle als Naturschutzorganisation bewegt sich der DAV zwischen den Stühlen. So hat er sich im Dezember in einer Pressemitteilung zum alpinen Skisport bekannt, obwohl er sich seit Jahren schon gegen den Bau neuer Seilbahnen ausspricht, das Skitourengehen als umweltschonende Alternative anpreist und generell eher eine kritische Haltung gegenüber dem Ski-Tourismus eingenommen hat. Zwar wiederholte er nun die Forderung nach einem Stopp von Ausbau und Zusammenlegung bestehender Anlagen. Doch „innerhalb der bestehenden Grenzen“ sei etwa auch der Betrieb und sogar der „moderate Ausbau“ von Beschneiungsanlagen zu akzeptieren, um die „tragfähige Zukunft des alpinen Wintersports“ zu ermöglichen, teilte er mit.
Das zeigt ein Weiteres der Dilemmata, in denen sich der Sport- und Lobbyverband befindet. Auch andere konfligierende Interessen muss er unter einen Hut bringen, so etwa die von Wanderern und Mountainbikern, die in den letzten Jahren zunehmend durch E-Biker abgelöst werden. Die Gefahr, an den eigenen Widersprüchen zu zerbrechen besteht allerdings nicht. Das Gegenteil scheint der Fall, denn der DAV erfreut sich seit Jahren eines ungebremsten Wachstums. Auch der Österreichische Alpenverein verzeichnet jedes Jahr einen immensen Zuwachs an Mitgliedern. Outdoor-Sport wird immer beliebter und Sportarten wie Klettern und Skitourengehen erfahren einen regelrechten Hype. Das macht sich auch am Bau immer neuer Kletterhallen bemerkbar, ein weiteres Feld der Aktivitäten des Vereins, mit dem die Wände auch in die Stadt geholt werden.
Anscheinend gibt es ein immer stärkeres Bedürfnis nach Naturerlebnis und Abenteuer in den Bergen, die man psychologisch als eine Sehnsucht nach Freiheit, Lebendigkeit und Ursprünglichkeit übersetzen kann. „Auf den Bergen ist Freiheit“, das war schon Schiller aufgefallen. Es handelt sich also keineswegs um ein neues Phänomen, stellte doch der Tourismus und besonders der Alpinismus von Beginn an eine Art Reaktion und romantische Gegenbewegung zur Industrialisierung und Entfremdung durch die kapitalistische Moderne dar. Dabei hat er jedoch eine neue Industrie etabliert, wie Hans-Magnus Enzensberger in seiner Theorie des Tourismus 1958 bemerkte. „Bewusstseinsindustrie“ hat Enzensberger das übrigens genannt, in Erweiterung des Begriffs der Kulturindustrie. Diese neuen, alten Sehnsüchte werden durch Social Media und besonders Instagram weiter befeuert, wo der Berg zunehmend als Kulisse für die Herstellung eines Narrativs der eigenen Identität dient – das „reflexive Projekt des Selbst“, wie es der britische Soziologe Anthony Giddens bezeichnet. Das Projekt der Erschließung der Bergwelt hat sich damit zwar verselbständigt, doch spielt der Alpenverein nach wie vor seine Rolle darin, wenn auch eine nicht ganz einheitliche. Als Anachronismus zeigt er also durchaus Beständigkeit und das nun schon seit 150 Jahren.
Die Dresdner Hütte ist eigentlich ein Hotel mit 140 Betten und liegt direkt neben der Seilbahnstation im Skigebiet Stubaier Gletscher.